Gründe für Latein als erste Fremdsprache

Ein kurzer Vortrag von Dr. Dieter Kremendahl aus dem Jahr 2003

(0) Wenn man sich, meine Damen und Herren, auf die Diskussion um Latein als erste Fremdsprache einlässt, hört man oft drei Argumente (eigentlich drei Argumentationsbündel), die zugunsten des Lateinischen angeführt werden: ein sprachliches, ein historisches und ein formales.

Diese Argumente sind gut und allemal wert, noch einmal kurz genannt zu werden, und doch bin ich skeptisch, ob mit ihnen allein der (zugegebenermaßen) aufwendige und anstrengende Weg des lateinischen Spracherwerbs hinreichend gegründet werden kann.

Ich möchte ihnen jene Standardargumente daher nur kurz in Erinnerung rufen, um sie dann durch zwei Thesen zu ergänzen, die pädagogisch begründen, warum es sich m. E. lohnt, gerade in Klasse 5 mit Latein zu beginnen. Diese Thesen lauten: Der Lateinunterricht ist eine Schule des Sehens und in der Fremdheit der Antike liegt eine besondere Chance. – Was ich ihnen dort vortragen werde, ist Konsens in der Fachschaft Latein, auch wenn die Kollegen die Schwerpunkte vielleicht unterschiedlich betonen. (Doch nun zuerst zu den Standardargumenten.)

(1) Das erste Standardargument zielt auf die Rolle des Lateinischen als Muttersprache Europas. Im Lateinischen liegt die Wurzel der romanischen Sprachen (Italienisch, Französisch, Spanisch, Portugiesisch), und – wenn man auf das Vokabular schaut – so sind auch 40-50% der englischen Wörter vom Lateinischen abgeleitet. Latein ist also eine ideale Basis und Brücke zu anderen europäischen Sprachen. (Es geht nicht um ein Entweder – Oder [entweder Englisch / oder Latein], sondern um die sinnvolle Reihenfolge der alten und neuen Sprachen.

Latein liefert nicht nur den Grundstock für das Alltagsvokabular in den genannten Sprachen, sondern auch das wissenschaftliche und internationale Fachvokabular für nahezu alle Disziplinen. Etwas einfacher formuliert lautet dieses Argument: Wer Latein gelernt hat, hat kaum Schwierigkeiten mit Fremdwörtern. – Stimmt! (Diese Aussage ist so evident, dass ich mir jedes Beispiel verkneife.)

Zu diesem sprachlichen Argumentationszusammenhang gehört auch der Hinweis auf die grammatikalischen Bezeichnungen: Die Termini für Wortarten (Substantiv / Adjektiv / Verb), Satzteile (Subjekt / Objekt / Prädikat) oder Zeiten (Präsens / Imperfekt / Futur) stammen aus dem Lateinischen. Wer sie lernt und durchschaut, lernt zugleich, wie die eigene Sprache aufgebaut ist und vielleicht sogar, wie Sprache überhaupt funktioniert. Dabei ist es ein Vorteil, dass wir Latein nicht aktiv sprechen wollen, sondern (wenn wir glauben, die Aussage eines lateinischen Textes verstanden zu haben) sorgfältig nach einem angemessenen deutschen Ausdruck suchen.

Die Kinder werden somit sicherer in den Möglichkeiten und Nuancen der eigenen Sprache. Wenn sie zurückfragen: „Kann man das auch so übersetzen?“, dann prüfen wir gemeinsam, ob bei der angebotenen deutschen Alternativfassung wirklich dasselbe gemeint ist. Der lateinische Anfangsunterricht ist deshalb zu einem hohen Prozentsatz auch Deutschunterricht aus dem Blickwinkel einer anderen Sprache heraus. Wir haben am LGG mit der Einführung des jetzigen Lehrbuchs (Cursus Continuus) enge Absprachen zwischen den Kollegen für Deutsch und Latein getroffen, um die Zusammenarbeit in der Grammatik in den ersten Jahren besonders effektiv zu gestalten.

(2) Das zweite Standardargument bringt die Antike als eine maßgebliche Grundlage für unsere Kultur ins Spiel. Europa beginne eben in Athen und Rom – und seine Wurzeln müsse gerade auch derjenige kennen, der sie kritisch hinterfragen oder sich von ihnen emanzipieren wolle. Einige dieser Wurzeln lernen die Kinder schon in den ersten Lehrbuchlektionen kennen: Dort werden sie mit Marcus und Cornelia, den beiden Helden der ersten 10 Lektionen, auf einem Gang durch Rom in die Kultur und Alltagwelt der Römer eingeführt. (Auf Beispiele hierzu werde ich unten noch zurückkommen.)

(3) Drittens ist schließlich oft zu hören, dass Latein eine logisch aufgebaute Sprache sei, die das analytische Denken fördere. Bei dieser Aussage fühle ich mich regelmäßig unwohl, weil auch Latein eine putzmuntere lebendige Sprache mit entsprechend vielen Unregelmäßigkeiten und (unlogischen) Ausnahmen gewesen ist, aber es stimmt schon:

Die lateinische Formenlehre ist überschaubar, abgeschlossen und in sich so stark formalisiert, dass einem das Lernen durch zahlreiche Wiedererkennungseffekte leicht gemacht wird. Für den Grundstock muss man Fleiß, Übung und Geduld mitbringen; ist dieser aber gelegt, wird man für die Lernarbeit belohnt, weil immer wieder bekannte und eingeführte Schemata aufgegriffen werden. Und was man an Formen wirklich beherrschen muss, passt auf wenige (10-15) Druckseiten.

Dabei glaube ich beobachtet zu haben, dass es 10-jährigen sehr viel Spaß macht, diese innere Struktur der Sprache in den Griff zu bekommen. Und die Entwicklungspsychologen haben ja schon lange beschrieben, dass das abstrakte Denken in diesem Alter einen großen Sprung macht.

Ohne nun die Logik der lateinischen Sprache allzu sehr zu strapazieren, würde ich dieses letzte, formale Argument für Latein lieber dahingehend zuspitzen, dass Latein ein Kernfach des Lernen lernens ist: Ohne Lernen (Auswendiglernen) und Engagement geht es in diesem Fach nicht; das gilt auch für Schülerinnen und Schüler, die problemlos [d.h. ohne großen Lernaufwand] durch die Grundschule gekommen sind. Aber weil diese Techniken und Methoden des Lernens im LU so wichtig sind, üben wir sie auch so ausführlich mit den Kindern ein, dass sie sich ohne Schwierigkeiten auf andere Fächer übertragen lassen.

(4) In der Summe sind das sicherlich schon gute Argumente für Latein. Dennoch möchte ich sie jetzt um die eingangs erwähnten Thesen erweitern, die m.E. die besonderen pädagogischen Chancen des lateinischen Anfangsunterrichts herausstreichen.

(Ich spreche hier ausdrücklich vom Anfangsunterricht, also den 4 Jahren des Spracherwerbs [also der Lehrbuchphase] und vielleicht noch von den 2 Jahren Lektüreunterricht bis zum Latinum nach Klasse 10. Natürlich könnte ich hier auch von der Schönheit der römischen Liebeslyrik, der Bedeutung der römischen Philosophie oder der Zeitlosigkeit der römischen Rhetorik schwärmen (Themen der Oberstufe), aber das sind Punkte, die Sie im Moment wahrscheinlich noch nicht so sehr interessieren. M.E. kann man nicht glaubhaft für Latein werben, wenn man sagt, das eigentliche (inhaltliche) Ziel dieses Unterrichts beginne erst jenseits von 4 Jahren harter Lehrbucharbeit.)

(5) Meine beiden Thesen lauten:

  1. Der LU ist eine Schule des Sehens, in der durch genaues Lesen jene Lesekompetenz gefördert wird, deren Mangel die PISA-Studie unlängst beklagt hat. Im LU geht es um ein reflektiertes und mikroskopisches Textverständnis; damit steuert der LU dem Informationsoverkill und der Weg-Zapp-Mentalität unserer Zeit entgegen.
  2. Die im LU vermittelten Kenntnisse von der Fremdheit der Antike geben den jungen Schülerinnen und Schülern eine Vergleichsbasis an die Hand, um sich die Strukturen der eigenen Zeit und Gesellschaft kritisch zu erobern.

(6) Zu 1.: Der Schule des Sehens

Ob das vollständige Verständnis eines lateinischen Textes gelingt, hängt in der Regel von der genauen Deutung sehr kleiner Elemente ab (der Endungen). Im Extremfall entscheidet ein Buchstabe – versteckt in einer Verbalform – darüber, ob die Aussage im Indikativ oder Konjunktiv steht, ob also durch Sprache Realität erfasst und abgebildet werden soll, oder ob wir uns im Bereich der Möglichkeit, der Phantasie, der Träume und Wünsche befinden.

Oft gibt es bei Schülern ein spontanes (und vorläufiges) Verständnis der Texte. Da werden 80% der Vokabeln von ihren semantischen Bedeutung wiedererkannt, der Rest wird mehr oder weniger richtig erschlossen. Und dann wird daraus eine eigene Geschichte und Aussage gestrickt. Das ist kreativ und manchmal auch lustig, trifft aber nicht die Intention der fremden Gedanken, an denen wir unsere Überlegungen ja schulen wollen.

Also schicken wir die Schülerinnen und Schüler als Detektive wieder in den Text zurück: Schaut nochmal hin; habt ihr nicht vielleicht etwas übersehen; habt ihr euch nicht vielleicht vom ersten Eindruck der (freien) Satzstellung täuschen lassen. – Es ist spannend zu sehen, mit wieviel Ehrgeiz, Spaß und Konzentration sich eine Klasse bemühen kann, wirklich alle Informationen zu entdecken und auszuwerten.

Dieses kleinschrittige Lesen – nur drei, vier, fünf Zeilen in einer Stunde – ist in dem Sinne unzeitgemäß, als es dem schnellen Sortieren und Überfliegen von großen Informationsbergen etwas entgegensetzt. Wir geben uns im LU gerade nicht mit einer oberflächlichen Informationserfassung zufrieden und schalten auch nicht um, wenn es schwierig wird, sondern trainieren in jeder Stunde jene Genauigkeit des Sehens und Lesens, die laut PISA vielen Schülern fehlt. (Und wenn meine Schüler stolz darauf sind, weil sie mich bei einer Unachtsamkeit erwischt haben, also selbst genauer hingeschaut haben, dann ist das in Ordnung! Die Entdeckerfreude gerade bei 10-jährigen ist hier riesengroß. M.E. kann es gar nicht früh genug eingeübt werden, den eigenen Lösungsvorschlag immer wieder zu überprüfen.)

(7) Zu 2. Die Chance der fremden Antike

Der inhaltliche Schwerpunkt der ersten Jahres ist die Vermittlung der römischen Alltagswelt. Wir wandern in den ersten Lektion (wie gesagt) mit MARCUS und CORNELIA durch Rom: Der Alltag dieser beiden Kinder ist im Vergleich zu dem heutigen Alltag der Schüler viel fremder, als z.B. die zeitgenössischen Lebensumstände eines Kindes in London oder Paris.

Die Helden unseres Lehrbuches leben in einer Welt ohne (moderne) Technik, aber mit Sklaven; sie sehen tödliche Gladiatorenspiele im Kolosseum statt ketch-up und schminkegetürkte Fernsehmorde. Sie erleben, dass Bibliotheken in einem Nebenraum der Schwimmbäder (der Thermen) untergebraucht waren – also dort, wo bei uns heute die Body-Building-Studios stehen. Außerdem lernen sie eine Religion kennen, in der man glaubte, mit den Göttern verhandeln zu können (do, ut des), während sie selbst in einer zunehmend säkularen Gesellschaft groß werden, in der gelebte Religiosität ein Randphänomen wird.

Welche pädagogische Chance liegt in dieser Kontrasterfahrung: Die Kinder werden hier auf eine altersgerechte Weise mit Werten, Normen und Strukturen einer anderen (zunächst einmal fremden) Gesellschaft bekannt gemacht. Das multi-kulturelle Lernen vollzieht sich diachron durch die Jahrhunderte hindurch. Dabei ist das Wissen um diese historischen Fakten zugleich auch eine Anfrage an die eigene Zeit: Haben wir wirklich keine Gladiatoren oder Sklaven mehr, oder verstecken sich unsere Gladiatoren unter der Maske hochbejubelter Leistungssportler? Haben sich die antiken Sklaven nicht vielleicht in androide Roboter und Maschinen einerseits und „niedrigen Lohngruppen“ andrerseits aufgespalten?

Fünftklässler sehen diese Bezüge durchaus und sie sehen damit auf einmal ihre eigene Zeit anders. Der Vergleich mit dem Fremden (und eben doch nicht ganz Fremden) reizt zum Widerspruch und hilft dabei, sich die eigene Gegenwart kritisch zu erobern.

Einer modernen altsprachlichen Didaktik entsprechend, möchte der Lateinunterricht am LGG mehr vermitteln als „nur“ Latein. Der Spracherwerb ist kein Selbstzweck, sondern er ist in dem eben skizzierten Sinn an Inhalte gebunden.

Vielen Dank.

Dr. Dieter Kremendahl